Wie der Vater, so der ….?
Von der Freiheit, ein Nicht-Nachfolger zu werden
Diese Geschichten sind aus meiner Erinnerung entstanden. Bitte verzeiht mir, wenn ich mich anders erinnere als Ihr selbst.
Für meinen Vater. Für meine Mutter. Für die Domo-Familie, vor allem für Renate.
Prolog
Meine Geburt löste große Heiterkeit aus. Vor allem beim Betriebsrat. Zu Beginn der 1960er-Jahre war der Tag meiner Geburt ein besonderer Tag. Ein Jahr nach dem Mauerbau veranstaltete Ost-Berlin eine Militärparade, im Westen sprach Bundespräsident Heinrich Lübke vor dem Reichstagsgebäude. Auf dem Plakat des Deutschen Gewerkschaftsbundes waren Hände mit Stacheldraht und dem Slogan »In Frieden arbeiten - in Freiheit leben« zu sehen.
Kapitel 1: Tod im See
Das Telefon klingelte. Es war Sonntagmorgen, acht Uhr. Der graue Apparat mit Wählscheibe klingelte in der Küche, auf dem Schreibtisch meiner Mutter. Da hatte sie einen schmalen Platz, direkt neben dem Herd. Ein Schuhkarton stand dort, beklebt mit Stofffolie im Schottenkaro. Darin ihre Notizen, auf kleinen Zetteln. Zitate aus Büchern, die sie liest. Eigene Gedanken. Sätze, die sie gehört hatte.
Kapitel 2: Streets of San Francisco
Präzise Schläge auf die Tom-Tom-Trommeln. E-Gitarren-Riff. »Have a Pleasant Trip.« Golden Gate Bridge. Fisherman’s Wharf. Cable Car. Schallgedämpfte Trompeten. Wildes Saxofon. »Starring Karl Malden.« »Also Starring Michael Douglas.«
Kapitel 3: Dienstwagen
Auf dem Gang vor dem Domo-Chefbüro kamen mir drei Personen in Anzug und Krawatte entgegen. Sie gingen ohne Gruß vorüber, sahen mich kaum an. Fräulein Schmidt sagte nur knapp: »Die Leute von Mercedes.« Erstmals seit 18 Jahren hatte mein Vater keinen neuen Wagen bestellt: »Zu teuer.«
Kapitel 4: Kundenparkplatz
Auf dem Grundstück meines Bruders stand lange Zeit der letzte BMW-Siebener. In Weiß, ganz im Sinne der Domo-Corporate-Identiy, Durchschnittsverbrauch in der Stadt einundzwanzigkommazwo Liter, als Gebrauchtwagen unverkäuflich. Mein Bruder hatte ihn behalten und nicht mehr gefahren. An was sollte ihn dieser Wagen erinnern?
Kapitel 5: Samstags gehört Vati mir
Sechs Jahre vor meiner Geburt rief der Deutsche Gewerkschaftsbund zur 5-Tage-Woche auf. Es gelang. Fünf Jahre nach meiner Geburt wurde in der Metallindustrie die 40-Stunden-Woche beschlossen.
Kapitel 6: Kaufmann
In der Grundschule wurde ich von meinen Mitschülern und Lehrern gefragt, was mein Vater »von Beruf ist«. Ich wusste keine Antwort. Hatte eine vage Vorstellung, dass er jeden Tag zu einer Arbeit fuhr und schon etwas machte, irgendwie.
Kapitel 7: Äpfel aus dem Garten
Mein Vater rief an. Später Nachmittag. Er wollte meine Mutter sprechen. Ich legte den Hörer zur Seite und ging sie suchen. Sie war, wie oft am Nachmittag, im Garten. Ich schlug einen bestimmten Weg ein, um sie schnell zu finden.
Kapitel 8: Eine Art Banken-Hasser
Wir standen in der kurzen Schlange der Stadtsparkasse-Filiale Kirchditmold. Die ältere Bankangestellte begrüßte meine Mutter mit Namen. Schaute kurz nach unten. Vor ihr waren eine Reihe von Holzfächern, dort die Kontoauszüge eingeordnet. Die Frau kannte die Kontonummern aller Kunden auswendig.
Kapitel 9: Kundenabwehrdienst
Schon als Kind lernte ich, dass der Kunde König ist. Oder manchmal eben nicht ist. Samstags fuhren wir in die »Stadt«, was die Innenstadt von Kassel meinte. Wir lebten zwar in der Stadt Kassel, doch »Stadt« wurde synonym mit »Einkaufen« verwendet.
Kapitel 10: Heimkommen auf den Millionenacker
Unser Haus mit der Nummer 19 lag in einer hufeisenförmigen Straße, ein Acker war umgewidmet worden, die Chaussee hieß nun »Vor der Prinzenquelle«. Oder im Volksmund: »Millionenacker«.
Kapitel 11: Der Kunde ist Gott
Kundenbedürfnisse landeten in der Eingangsmappe des Chefs, die mit einstündiger Verspätung am Morgen aus der Buchhaltung eintraf. Vorher las sie der andere Chef, so war es mit dem Vater dieses anderen Chefs verabredet worden. Zur Seite stand ihm ein Prokurist, der peinlich genau auf diese Reihenfolge achtete.
Kapitel 12: »Scheisse« rief der Grossherzog
In den Ferien vertrat ich manchmal die Frau, die die Durchschläge sortierte. Vor mir standen, übereinander gestapelt, die Plastiksortierfächer. Die Namen der Außendienstler waren mit einem Dymo-Prägegerät ausgedruckt worden, je nach Können des Ausdruckenden traten die weißen Buchstaben gleich hell aus dem schwarzen Untergrund hervor, in einer Reihe. Oder die Buchstaben versprangen in der Zeile, ein »I« war kaum zu sehen.
Kapitel 13: Home-Office
Die Firma sitzt immer mit am Tisch. So wird über Familienunternehmen berichtet. Im Alter von 12 Jahren war mir deren Platz bei uns zu Hause am Esstisch aber eher unbekannt. »Die Firma« lernte ich durch das Mitmachen kennen. Ich trug meinen Teil zum Produktivgewinn bei, Kapitalismuskritik war mir noch fremd.
Kapitel 14: Ein Ungelernter verdient 7,50 DM
Als Jugendlicher mit 16 Jahren war ich bereit für die vollständige Verwendung als Urlaubsvertretung. Ich lernte die Bedienung des Telex-Gerätes im Erdgeschoß im Kabuff der Empfangsdame Frau Leschhorn kennen.
Kapitel 15: Die Stoppuhr in der Tasche vom Chef
Das Herz des Betriebes war die Produktion. Mein Vater stand gerade »am Band«, schaute seinen Mitarbeitern über die Schulter. Er berührte diese Schultern nie, Handschlag selten (Ausnahme: Jubiläum), manchmal wurde der Meister so begrüßt.
Kapitel 16: Firmenschild im Portemonaie
Auf dem Weg in den Skiurlaub in den französischen Alpen gab es für jede Strecke die gleichen Stopovers: Zuerst wurde auf der A5 hinter Frankfurt die Raststätte Gräfenhausen angesteuert, meine Schwester und meine Mutter gingen nach links in die Damentoilette, mein Vater, mein Bruder und ich nach rechts. Auf der Strecke sollte möglichst die eigene Produktion genutzt werden.
Kapitel 17: Hongkong-Liebe auf den ersten Blick
Es war sieben Uhr morgens. Mein Vater hellwach. Er hatte einen Plan im Kopf. Neben ihm schlief meine Mutter, bestimmt noch drei Stunden.
Kapitel 18: Unter der Brücke landen
Die Monteure hatten auf der Baustelle die Bohrlöcher für die Einsteckfüße der Sanitäranlagen gesetzt. Und zu tief gebohrt. Die Fußbodenheizung angebohrt. Das Wasser lief aus, durch die Decke ins nächste Stockwerk. Tagelang blieb es unentdeckt, weitere Stockwerke standen unter Wasser. Unsere Firma war wahrscheinlich nicht versichert, Anwälte des Bauherrn sprachen von »grober Fahrlässigkeit«.
Kapitel 19: documenta mit: Beuys
Die Führungskräfte waren zur Morgenrunde beim Chef versammelt. Er hatte einen neuen Schreibtisch, den »M1«. Gekauft am Wochenende direkt aus dem Tecta-Pavillon der documenta 8. An einen eckigen schloss ein runder Teil an, dort herum saßen die Abteilungsleiter. Laut Katalog war es ein »demokratischer Schreibtisch«. Sechs Stühle gehörten dazu, sie waren aus einem einzigen, roten Metallteil geformt mit schwarzer Sitzfläche.
Kapitel 20: Schlüsselgewalt - Ein Vorgeschmack auf die Nachfolge?
Ich saß meinem Vater an seinem Schreibtisch gegenüber. Sein Gesicht hatte es etwas Offizielles. Nichts sagte er. Er sah mir in die Augen, dann lächelte er. Mit einem Ruck stand er auf.
Kapitel 21: Corporte Identity
Der Leiter des Fuhrparks stand auf dem Hof und betrachtete einen Lkw: »Oh, da haben wir jetzt ein Problem.«
Kapitel 22: Jackettasche (messetauglich)
Auf unserem Messestand bei der Constructa in Hannover war eine der Schaukabinen immer verschlossen. In einer verborgenden Schublade lagerte ein Vierkantschlüssel, mit dem das Standpersonal die Tür von außen öffnen konnten.
Kapitel 23: Achtung Radfahrer, der Boden ist frisch gebohnert
Der Übergang zwischen dem ersten Verwaltungsgebäude und dem späteren Anbau war unmerklich. Im Gang des Anbaus sah man eine Klinkerwand, unverkennbar die frühere Außenwand. Ganz oben, der Montierende musste eine Leiter benutzt haben, war ein handgeschriebener Zettel mit kreuzweisen Klebestreifen an allen vier Seiten befestigt worden.
Kapitel 24: Der Ausbeuter am Fenster
Ganz lange wurde »Gewerkschaft« von meinem Vater mit einem ärgerlichen Unterton ausgesprochen. Als Kind entwickelte ich zu Gewerkschaften somit eine natürliche Abneigung, es gab sonst Ärger. Oder zumindest Erstaunen über unsere Ansichten.
Kapitel 25: Singapur-Kopie? Nein: Plagiat!
Ich hatte auf einmal drei neue Geschwister. Die drei Singapurer begrüßten meinen Vater in ihrem einfachen Büro mit dem deutschen »Papa«. Hatte es heimliche Adoptionen gegeben? Mein Vater eine Zweitfamilie in Fernost? Ich war als Stiefbruder auf jedem Fall gleich akzeptiert. Ich zögerte keine Sekunde, ließ mich in den Arm nehmen. Die Familie war einfach zu herzlich.
Kapitel 26: Herzlich willkommen, Junior, im Geheimzirkel
Ein Ort mitten in der Stadt kam dafür überhaupt nicht infrage. Schon gar nicht das Schlosshotel oben im Bergpark. Etwas zu essen wäre schon gut, gehobene Hausmannskost. Vor allem aber: Verschwiegenheit der Betreiber.
Kapitel 27: Wir wollen - wollte ich auch?
Ich stand am Fenster im Büro meines Vaters und blickte hinaus. Zwischen dem lang gezogenen Verwaltungsgebäude und der Straße war der Parkplatz angelegt. Das Haus, ein Meter Böschung, die Autos parkten davor längs, die Zufahrt war von der Straße durch eine kleine Mauer abgetrennt.
Kapitel 28: Entscheidung - raus
Mein Vater wollte immer das Familienunternehmen unternehmen. Oder musste immer? »Ich bin heute wieder für 200 Familien verantwortlich« war seine Tageslosung. Erst jetzt ist mir klar geworden: Mein Vater hatte sich geirrt. Keinesfalls war er verantwortlich für diese Familien. Doch das Leben lehrte es ihm so.
Kapitel 29: Herkulesblick - Der Sohn hat es eingerissen?
Auf unserem Balkon saßen mein Vater und der Oberbürgermeister. Meine Beiträge zum Gespräch waren bescheiden. Zwei gestandene Männer verhandelten über ein Grundstück im Industriegebiet. Der Balkon war Teil des Geheimtreffens, nichts sollte nach außen dringen.
Kapitel 30: Werde nicht unverschämt
Die Arbeitstage in unserer »Agentur« begannen immer dann früh, wenn eine Reise zum Kunden anstand. Wir fuhren aus Prinzip schon Anfang der 1990er-Jahre mit dem Zug. Nach Aachen mit dem Interregio ab Kassel-Wilhelmshöhe, damals der modernste Bahnhof Deutschlands, um 5:51 Uhr.
Kapitel 31: Vater-Coaching - ein Kanute hat sich durchgekämpft
Schon Mitte der 1980er-Jahre hatte ich in der Uni-Bibliothek am Standort Monteverdistraße im Manager Magazin den Artikel »Partner in dünner Luft« entdeckt und selbstverständlich gleich kopiert.
Kapitel 32: Ihr Vater hat alles falsch gemacht mit Ihnen
Achtzehn Jahre nach meiner Entscheidung, nicht Nachfolger im heimischen Familienunternehmen zu werden, stand ich an einer freien Tankstelle in unserem Viertel Vorderer Westen.
Kapitel 33: Success statt successor
An einem Montagmorgen im Industriegebiet fühlte ich mich noch einmal wie ein Juniorchef. Weit und breit nur Gebiet und keine Industrie. Der Bauunternehmer lud ein zum Spatenstich. Weit und breit nur Bagger und kein Spaten.
Kapitel 34: Für 200 Familien verantwortlich
Viele meiner Entscheidungen waren unbewusst, ich bin etwas gefolgt, doch ich wusste nicht, was. Die Abkehr von Familienunternehmen hatte wohl noch mehr Gründe, als ich erinnere und mir eingestehen will.
Kapitel 35: Einschlafen dürfen, wenn man müde ist
Ich hatte bei der Gemeinde, bei der mein Vater wahrscheinlich dreißig Jahre Kirchensteuer entrichtet hatte, kurz vor Weihnachten angerufen.
Epilog
Strahlender Sonnenschein auf Usedom. Mein Vater, meine Frau und ich schlenderten über die Promenade. Der typische Baulärm, ein Gemisch von Schlagbohrern, Anweisungen und Dieselgeneratoren, wehte uns entgegen.