Kapitel 34: Für 200 Familien verantwortlich
Beitrag vom 05.07.2024
Viele meiner Entscheidungen waren unbewusst, ich bin etwas gefolgt, doch ich wusste nicht, was. Die Abkehr von Familienunternehmen hatte wohl noch mehr Gründe, als ich erinnere und mir eingestehen will.
Zunächst war es eine Überforderung: Ich konnte mir kaum vorstellen, auf dem Platz meines Vaters zu sitzen und »für 200 Familien verantwortlich zu sein.« So sagte es mein Vater über seine Arbeit, so verstand er seine Verantwortung. Ein Kriegskind, dessen Vater gefallen war. Er übernahm als älterer Bruder die Verantwortung für den männlichen Teil in der Familie und diese Verantwortung ließ ihn nicht mehr los: in der eigenen Familie mit drei Kindern, in der großen Unternehmensfamilie mit vielleicht 200 Kindern.
In seiner Kaufmannslehre lernte er das piefige Wirtschaftsleben kennen, er war als Lehrjunge für das morgendliche Anheizen des Ofens in der Buchhaltungsstube verantwortlich. Zu Fuß ging es eine halbe Stunde zur Arbeitsstelle bei Beck & Henkel.
Hier musste mein Vater früh den Entschluss gefasst haben, das Angestelltendasein zu verlassen. Der Wind des Aufschwunges Ende der 1950er-Jahre unterstützte ihn. Er traf seinen, wesentlich älteren Kompagnon mit Kapital, der die Gründung überhaupt möglich machte. Der Wiederaufbau, die Schaffung von Wohnraum, war seine Chance - er produzierte Einbauküchen für diese Wohnungen. Dann Drahtzäune, dann Stahlzargen, dann Sanitärkabinen für Schwimmbäder. Für Kassel, für Hessen, für Deutschland. Für die Welt.
Radikal habe ich nicht mein Leben gelebt, habe den amerikanischen Traum nicht verwirklicht, doch das gemachte Nest (Familienunternehmen) abgelehnt, auch etwas gewagt. Ich musste das einfach tun, es war keine bewusste Handlung, eher Notwehr.
Raus aus dem gemachten Bett, weg von den Patriarchen und den Kriegstraumatisierten, die mit ihrem Fleiß alles verdrängten. Ihr Überlebensinstinkt fand die Fortsetzung in ihren Unternehmensgründungen, sie hatten keine Wahl, sie mussten nach vorne schauen und gehen. Deren Vater (mein Großvater) im Krieg »gefallen«war. Nichts war da, auf das sie sich beziehen konnten, an dem sie sich abarbeiten konnten. Mein Vater konnte nichts ausschlagen, er musste handeln. Auch er war abhängig, sein Kompagnon war älter, hatte Kapital (aber keine Ideen) und schlug ihm die Unternehmensgründung vor. Mit meiner Ablehnung der Nachfolge entschied ich mich für eine Freiheit, die mein Vater nicht hatte und selbst später, als genügend Geld vorhanden war, nicht fand, nicht finden konnte.